Jens Badura ist habilitierter Philosoph, Kulturmanager und Bergwanderführer (UIMLA). Er betreibt das alpenweit tätige berg_kulturbüro in Berchtesgaden und ist Teil des think&do-Tanks creativeALPS. Jens lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg.
Szenarien
Szenarien können reizvolle Gebilde sein, solange sie nicht auf dröge, datenverdichtende Prognosetools reduziert werden. Sie können zu inspirierenden Geschichtenwerkstätten werden, in denen man sich die Bühnen für das Durchspielen unterschiedlicher Zukünfte baut. Damit schafft man die Möglichkeit, Variationen des Kommenden anschaulich und quasi „probe-erlebbar“ zu machen. So ermöglichen sie es, den Alltag wie einen Resonanzraum zu begleiten, durch den die jeweils anstehenden Entscheidungen im Lebensvollzug auf ihre Stimmigkeit hin belauscht werden können.
Derzeit wird zunehmend über Vorschläge zur Rückabwicklung und Anpassung des in den letzten Wochen installierten, imposant-eingriffigen Maßnahmenapparates diskutiert – bekanntlich kontrovers und vermehrt geprägt von klassischen Mechanismen der politischen Profilierung und der Konkurrenz von Einzelinteressen. Hier steht zu hoffen, dass die politischen Entscheidungsträger nicht von der bisherigen Besonnheit ablassen und es auf sich nehmen, die Situation „kompliziert“ sein zu lassen und Entscheidungsprozesse entsprechend komplex zu gestalten.
Keinesfalls aus dem Blick rücken sollte aber, angesichts dieser anschwellenden Ausstiegskakophonie, der bemerkenswerte atmosphärische Ladungszustand, in dem wir uns gesellschaftlich befinden. Da steht nämlich die noch weitgehend unverdaute kollektive Erfahrung im Raum, dass man sich nicht nur völlig unerwartet in einer massiv ver-rückten Wirklichkeit wiederfinden kann, sondern dass dies zudem auch noch aufrüttelnd-charmante Perspektivwechsel auf die Möglichkeiten der Lebensführung und Gesellschaftsgestaltung mit sich bringen kann.
Es ist daher an uns, diese Erfahrung gemeinsam durchzuarbeiten – und da kommen nun die Szenarien wieder ins Spiel. Es wäre fatal, wenn unsere ganze Kraft, die Zukunft zu denken, nun auf die Spur einer „Rückkehr zur Normalität“ gesetzt würde. Denn eben diese Normalität selbst ist in der Krise fraglich geworden. Also: Nutzen wir die Macht der Szenarien, um uns die Bühnen für das Erproben neuer Zukunftsgeschichten zum Teil eines neuen Alltags zu machen!
Beziehungen
Beziehungen sind eine empfindliche Angelegenheit: man muss sie pflegen, sonst besteht die Gefahr, dass sie sich in Unverbindlichkeit auflösen oder aber abrupt den verbindenden Bezug – die Verbundenheit – verlieren und zerbrechen.
Beziehungen bedürfen eines ausgewogenen Verhältnisses von Nähe und Abstand: hinreichend Nähe, damit eine wechselseitige Anziehung in Wirkung bleibt, hinreichend Abstand, damit das, was sich anzieht, z.B. befruchtender Eigensinn oder attraktive Differenz, nicht zum Verschwinden gebracht wird.
Derzeit sind wir mit der Herausforderung konfrontiert, dieses komplexe Verhältnis von Abstand und Nähe neu organisieren zu müssen: Einerseits nötigt uns die räumliche Enge der kollektiven Quarantäne dazu, mehr Nähe auszuhalten, als uns lieb ist, andererseits zwingt uns verordneter Abstand, weniger konkrete Verbindlichkeit zu leben, als wir es wollen.
Es wird viel davon gesprochen, wie wichtig es sei, in der Krise die Pflege der Betroffenen sicherzustellen. Dabei sollte es aber nicht nur darum gehen, jene zu pflegen, die medizinische Unterstützung brauchen. Wir müssen zugleich für die Pflege dessen Sorge tragen, was dem Menschen ein ebenso lebensnotwendiges Gut ist wie die körperliche Gesundheit: der gefühlte und gelebte Bezug zueinander, auch wenn uns das momentan mehr Nähe und mehr Abstand aufnötigt, als wir es gewohnt sind.
Krise
Manchmal gibt uns die Welt zu verstehen, dass sie nicht immer unsere Komplizin ist. Das Leben scheint dann als ein Widerfahrnis - nicht oder nur beschränkt beeinflussbar und tendenziell bedrohlich.
Ein derzeit allgegenwärtiger Begriff für einen solchen Zustand ist der der Krise. Das griechische „krísis“, von dem sich das Wort „Krise“ herleitet, ist in seinem Bedeutungsspektrum aber keineswegs auf eine negativ-pessimistische Sicht der Dinge beschränkt. Krise meint nämlich ursprünglich zunächst einmal „Entscheidung“ und damit jenen Moment, in dem die Welt uns - eben widerfahrnishaft - aufträgt, Entscheidungen zu treffen: was wäre gut, was wäre schlecht? Was vermag man, was vermag man nicht? Wo soll es hingehen, wohin nicht? Und, als große Frage hinter allem: wie will man leben?
Krisen können, als Nötigung zur Selbstbefragung, Denkräume öffnen, die im „normalen“ Leben verschlossen bleiben. Nutzen wir unsere derzeitige, tiefgreifende Krise doch dazu, uns in diesen Denkräumen ebenso tiefgreifend zu bewegen und zu überlegen, wie wir - nicht nur jetzt - so entscheiden können, daß unser Leben immer wieder die Chance bekommt, ein gutes Leben zu sein.
Es ist der Moment der Bedingungssätze: Wenn dieses (z.B. Social Distancing) getan wird, dann folgt daraus jenes (z.B. Verringerung der Ansteckungsrate). Wenn-dann-Sätze vermitteln uns das gute Gefühl, mit unserem Handeln gezielt Zwecke erreichen zu können (z.B. die Eindämmung der Corona Pandemie). Etwas allgemeiner gesprochen: Sie bezeugen uns scheinbar, dass wir die Welt „in den Griff“ bekommen können. Was dabei verdrängt wird ist allerdings, dass uns die Welt im Kern unverfügbar bleibt – so sehr wir sie auch zweckrational „be-handeln“. Erst dann, wenn unser Handeln machtlos wird, wenn nichts mehr zu „machen“ ist, drängt die Unverfügbarkeit wieder hervor. Und plötzlich zwingt uns die Machtlosigkeit unseres Handelns dazu, die Schranken dessen anzuerkennen, was uns möglich ist – und was sich unserer Macht entzieht. Wäre nicht jetzt die Zeit dafür, sich im Respekt vor dem Unverfügbaren zu üben und genau deshalb besser zu verstehen, was wir handelnd tun können?
Bleibt’s dahoam! Das ist das Motto dieser Tage. Die Wohnung ist zu unserem „Weltinnenraum“ geworden. Das Reisen bleibt dem Virus vorbehalten. Und selbst wenn die Berge rufen, sollen sie die Quarantäne nicht übertönen.
Die Nötigung zur Beschränkung unserer Lebenskreise bietet aber ungeahnte Möglichkeiten: die nämlich, den Alltag in seiner vermeintlichen Selbstverständlichkeit zu befragen. Aufmerksamkeit für den Reichtum unserer oft übersehenen Nahwelt einzuüben. Hinzuspüren, was sich ohne das ständige Rauschen einer überhitzten Gegenwart an Relevanzen zeigt.
Und wenn dann doch einmal die Decke auf den Kopf zu fallen droht, gibt es immer noch eine Ferne ohne Reisebeschränkungen: das Einschiffen in die Phantasie. Und sich dorthin zu bewegen, wo die Zumutungen der aktuellen Situation die Lust auf das, was in Zukunft möglich sein wird, nicht unter Quarantäne stellen können.
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